Abwehrkette? Nicht beim Jugger!
von Max Martens
Wir beim MUS-Magazin haben uns zum Ziel gesetzt, unpopulären Sportarten eine Plattform zu bieten und über sie zu berichten. Doch wir brauchen keinen Hehl daraus zu machen, dass wir nicht über alle Sportarten so gut Bescheid wissen wie über Quidditch. Dort sind wir schließlich seit ca. vier Jahren Teil der Community.
Um mich also über Jugger zu informieren, hörte ich mir den Podcast des Paderborner Teams Peters Pawns an. In den ersten Folgen schaut der Gastgeber Maximilian Vogel mit seinen Gästen Felix Schiller und Britta Braun auf die Saison 2019 zurück. Während dieser Folgen kam es des Öfteren zu Taktikgesprächen, die mich sehr interessierten. Ich fragte mich: Wie geht man ein Juggerspiel taktisch an? Wo positioniert man am besten die Kette? Und natürlich, wie hat sich die Taktik im Laufe der Zeit verändert?
Um das herauszufinden verabredete ich mich für ein Telefonat mit Felix Schiller, aktuell Trainer beim Berliner Team Falco Jugger und seit 2007 mit einer Pompfe auf dem Feld. Als Pompfen werden die Spielgeräte bezeichnet, die die Spieler*innen benutzen, um die Personen des gegnerischen Teams aus dem Spiel zu nehmen. Schafft man es eine Person mit der Pompfe zu berühren, muss diese sich hinknien und darf kurzzeitig nicht am Spielgeschehen teilnehmen. Es wird also in Teams gegeneinander gekämpft. Wobei man hier vorsichtig sein muss. Denn kriegerische Sprache ist in der Jugger-Community nicht so gerne gesehen. Deshalb sollten die Pompfen auch auf keinen Fall als “Waffen” bezeichnet werden.
“Wer hinten dranhängt, ist das Entscheidende”
“Ich würde am liebsten ‘Fechtwaffe’ oder ‘Fechter’ etablieren”, entgegnet Schiller. Schließlich könne man sich unter diesem Wort direkt etwas vorstellen. Bei “Pompfe” erntet man dagegen oft fragende Blicke. “Damit stehe ich aber ziemlich alleine”, gibt Schiller zu. Seine Lieblingspompfe oder -fechtwaffe ist die Kette. Diese besteht aus einem Ball, ungefähr so groß wie ein Volleyball, der am Ende eines langen Seils befestigt ist. Diese wird dann umhergeschleudert und hat mit Abstand die größte Reichweiter aller Pompfen. Von der Kette darf es immer nur maximal eine pro Team auf dem Feld geben. Die weiteren Gattungen heißen Langpompfe, Kurzpompfe, Stab, Q-Tip und Schild. Dazu gibt es noch den*die Läufer*in, der*die versucht mit dem Jugg (Spielball) die Punkte im gegnerischen Mal (quasi das Tor) zu machen. Mit der Frage nach seiner Lieblingsaufstellung, was die Pompfen angeht, hat Schiller Schwierigkeiten. “Das hängt auch viel von der Spielmentalität ab”, sagt er, denn “der*die Spieler*in, der*die hinten dranhängt, ist das Entscheidende”.
Ein Spielzug beim Jugger kann man in drei Phasen unterteilen: Spielaufbau, Spiel an der Linie und Auflösung. Je nachdem in welcher Phase man sich befindet, werden die einzelnen Positionen gehandhabt. Am Anfang geht man mit einer besprochenen Aufstellung in den Aufbau und trifft das gegnerische Team meist an der Mittellinie. In der zweiten Phase, dem Spiel an der Linie, unterscheidet Schiller zum Beispiel zwischen offensiven und reaktiven Positionen. Also von Personen, die Druck ausüben bzw. aufnehmen. Die bereits erwähnte Kette ist dabei meist auf einer offensiven Position, da sie in ihrem Wesen eher als Angriffspompfe genutzt werden und es sich damit nicht so gut verteidigen lässt. Die reaktiven Spieler*innen versuchen im Gegenzug den Druck des anderen Teams zu entschärfen und im besten Fall zu kontern.
Der Ausgang der zweiten Phase bestimmt die dritte Phase. Die Linien sind aufgelöst und das freie Spiel beginnt. Dabei ist es wichtig sich schnell einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Wer hat den Jugg? Wie sind die Spieler*innen verteilt? Welche Personen sind gerade aktiv oder kurz davor wieder aktiv zu werden? Die Antworten auf diese Fragen entscheiden die weiteren Aktionen der Akteure.
Spanische Teams lösten “Wettrüsten” in Deutschland aus
Vor 13 Jahren, als Schiller anfing Jugger zu spielen, sah das noch ganz anders aus. “Da ist alles noch sehr locker gelaufen und die Taktiken waren nicht so stark ausgeklügelt”, erinnert er sich. Das änderte sich, als spanische Teams sehr schnell sehr gut wurden. Austauschstudenten hatten den Sport in Südeuropa eingeführt. Ein großer Unterschied zu den deutschen Teams war, dass die Spanier*innen aggressiver und kompetitiver spielten. Die sportliche Überlegenheit mischte den “gemütlichen Sport” in Deutschland ziemlich auf. Die Pompfen der Spanier waren zusätzlich aus leichterem Material gebaut und konnten so schneller und agiler geführt werden als die robusten Geräte der deutschen Teams. “In den ersten Turnieren haben die deutschen Spieler die Treffer der Spanier überhaupt nicht gespürt”, bringt Schiller den Unterschied auf den Punkt. Als Folge dessen entwickelte sich hierzulande ein regelrechtes “Wettrüsten”. Es wurden immer wieder neue Materialien ausprobiert, um die Pompfen zu perfektionieren.
Auch die Spielweise hat sich seitdem stark geändert. Der Sport hat sich von der Basis eines Zweikampfs hin zu einem Feldsport entwickelt. “Es geht jetzt mehr darum in Räumen zu denken”, erklärt Schiller. Wo kann ich am besten Akzente setzen? Wo kann ich mehr Einfluss auf das Spiel nehmen? Die Feldkontrolle bekam eine größere Bedeutung. Dadurch wurden auch die Räume zwischen den Spielenden größer und die Laufgeschwindigkeit nahm zu. Was uns zu der Position bringt, die vom Namen her nichts anderes tut: die Läufer*innen. Früher war es eher so, dass abgewartet wurde, bis sich die Situation an der Linie klärte, um dann gefahrlos den Jugg in Besitz zu nehmen. Mit der Zeit wurden sie aber mehr in das taktische Geschehen einbezogen. Aktuell kommt es dadurch häufiger zu Kämpfen beider Läufer*innen, die sich gegenseitig davon abhalten den Spielball zu erobern. Eine fünfte Person an der Linie bringt zudem noch eine Ablenkung mehr mit in das Spiel. Zum Beispiel, um jemanden zum Abschlagen zu verleiten und so dem eigenen Team die Chance zu geben eben diese Person aus dem Spiel zu nehmen. Außerdem übernehmen die Läufer*innen meist auch die Hauptkommunikation auf dem Feld und koordinieren das Team.
Nach 13 Jahren immer noch Neues
Diese taktischen Anpassungen und Optimierungen finden im Detail bisher eher in den leistungsstärkeren Teams statt. Denn diese haben die Ressourcen an erfahrenen Spielerinnen und Spielern, die sich diesen Themen widmen können. Natürlich bringt es nichts, sich über taktische Kniffe Gedanken zu machen, wenn die Grundlagen noch nicht einwandfrei beherrscht werden. Dazu zählt zum Beispiel Pompfenführung und saubere Beinarbeit. Soll daraus ein Komplettpaket mit schneller situativer Reaktionsgeschwindigkeit, Feldübersicht und Feldkontrolle werden, “braucht man schon ein, zwei Jahre, um die Leute auszubilden, damit sie das unter Druck bei einem Turnier leisten können”, resümiert Schiller.
Daran arbeitet er als Trainer intensiv. Hat man Personen mit sportlicher Vorerfahrung im Team gestaltet sich das natürlich einfacher. Doch wie kann man ein Team ohne diese Voraussetzung hochziehen? Dafür möchte Schiller Ressourcen schaffen, Techniken und Taktiken formalisieren bzw. standardisieren. Mit seiner jahrelangen Spielerfahrung scheint er geeignet dafür zu sein. “Trotzdem ist es erschreckend, dass man nach 13 Jahren immer noch neue Techniken erlernen muss”, konstatiert er lachend. Ans Aufhören denkt der 33-Jährige jedoch nicht. “Es gibt so viele Faktoren, an denen man arbeiten kann. Und da liegt die Herausforderung in der Beherrschung der Spielkomplexität”, sagt er und fügt hinzu: “Das finde ich mega interessant!” Es soll ja auch nicht langweilig werden.